Wer wählt die Komplementärmedizin — und warum?
- a -- Hentschel C, Kohnen R, Hauser G et al. Entscheidung zur Komplementärmedizin: sachorientiert oder irrational? Dtsch Med Wochenschr 1996 (Dezember, Nummer 13); 121: 1553-60
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- infomed screen Jahrgang 1 (1997)
, Nummer 3
Datum der Ausgabe: März 1997
Studienziele
Eine wachsende Anzahl von Patienten und Patientinnen zieht die Komplementärmedizin der konventionellen Medizin vor. Entsprechend häufig werden komplementärmedizinische Diagnostik und Therapie auch von konventionell ausgebildeten Ärzten angeboten. Über die Patienten und ihre Gründe, eine derartige Therapie zu wählen, ist jedoch relativ wenig bekannt.
Methoden
Die Studie wurde 1993-1994 in internistischen und allgemeinmedizinischen Praxen mit komplementärmedizinischem Angebot in Erlangen-Nürnberg durchgeführt (Angabe«Naturheilverfahren» auf dem Praxisschild). Den Patienten wurde im Wartezimmer ein Fragebogen abgegeben. Dieser erfasste sozio-demographische Charakteristika, Lebensstil sowie Daten zur Krankheit und zur Arzt-Patient-Beziehung. Patienten, die vergleichbare konventionelle Praxen aufsuchten, dienten als Vergleichsgruppe.
Ergebnisse
419 Patienten füllten den Fragebogen aus. 222 waren bei Ärzten mit Zusatzausbildung in Naturheilverfahren, 197 bei konventionell praktizierenden Ärzten in Behandlung. Frauen(72%) waren bei Komplementärmedizinern häufiger anzutreffen als Männer (28%), während in konventionellen Praxen das Geschlechterverhältnis ausgeglichen war. Die komplementärmedizinisch orientierten Patienten und Patientinnen hatten einen höheren Bildungsgrad und einen gesünderen Lebensstil. Nur 22% rauchten (31% in der Vergleichsgruppe), 46% waren alkoholabstinent (33% in der Vergleichsgruppe) und 39% waren Vegetarier oder verfolgten eine Vollwertkost (15% in der Vergleichsgruppe).Sie hatten in der Vergangenheit häufiger aus Unzufriedenheit den Arzt gewechselt. Aktuell standen eher chronische Beschwerden im Vordergrund. Sie erwarteten von ihren Ärzten mehr Zeit und führten mit ihnen öfters Gespräche über andere Probleme als die aktuellen Beschwerden. Negative Gefühle (niedergeschlagen, einsam, ängstlich) waren stärker ausgeprägt als in der Vergleichsgruppe. Ein Arzt mit naturheilkundlicher Ausrichtung wurde für die Behandlung von Migräne, Allergien, Depressionen und Hauterkrankungen bevorzugt, während bei Krebs, AIDS, Herzinfarkt und Diabetes ein konventioneller Arzt häufiger genannt wurde. In der Vergleichsgruppe wurde durchwegs ein konventioneller Arzt bevorzugt.
Schlussfolgerungen
Komplementärmedizinisch orientierte Patienten unterscheiden sich wesentlich von Patienten in konventionellen Praxen. Es handelt sich vorwiegend um gesundheitsbewusste Frauen, die früher negative Erfahrungen mit konventionellen Ärzten gemacht hatten.
Vielen Patienten genügt es nicht, wenn sich der Arzt mit naturwissenschaftlichen Methoden einer Organstörung zuwendet. Er muss auch in der Lage sein, den emotionalen Bedürfnissen der Patienten mit entsprechendem Einfühlungsvermögen Rechnung tragen zu können. Für die Schulmedizin besteht hier offensichtlich ein erheblicher Nachholbedarf. Ob Patienten von einer komplementärmedizinischen Behandlung langfristig profitieren, ist jedoch unklar. Mit einer Kosteneinsparung kann kaum gerechnet werden, da besonders bei vitalen Erkrankungen zusätzlich schulmedizinisch orientierte Ärzte aufgesucht werden.
Benedikt Holzer
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