Idiopathische Fazialisparese

Übersicht

Die idiopathische Fazialisparese, auch als Bell'sche Lähmung bekannt, ist eine akut auftretende periphere Lähmung des N. facialis. Sie tritt bei allen Altersgruppen auf, mit einer jährlichen Inzidenz von ungefähr 0,2‰. In den allermeisten Fällen ist nur eine Seite betroffen.

Die Ätiologie ist nicht vollständig geklärt. Verschiedenes weist darauf hin, dass es sich um eine Reaktivierung einer latenten Virusinfektion handelt. Im Verdacht steht insbesondere das Herpes simplex-Virus des Typs 1 (HSV 1), weil dieses Virus häufig in Ganglienzellen vorkommt und bei erkrankten Personen im N. facialis DNS von Herpesviren nachgewiesen werden konnte.(1) Auch findet man zuweilen eine leichte Beteiligung anderer Hirnnerven, so dass sich ein viral bedingtes Polyneuritis-Syndrom postulieren lässt, bei dem der N. facialis am stärksten betroffen ist. Andere Ursachen, die eine Rolle spielen könnten, sind Durchblutungsstörungen der Vasa nervorum oder Autoimmunvorgänge.

Als ersten wichtigen diagnostischen Schritt bei einer Fazialisparese muss man entscheiden, ob es sich um eine zentrale oder periphere Form handelt, vor allem weil Hirninfarkte ebenfalls eine häufige Ursache sind. Bei einer zentralen Fazialisparese ist die Läsion supranukleär, typischerweise kortikal oder subkortikal auf der Gegenseite, und man findet eine Lähmung der unteren Gesichtshälfte (am besten sichtbar, wenn man sich die Zähne zeigen lässt); das Auge kann noch geschlossen werden, da die obere Gesichtshälfte von beiden Hemisphären versorgt wird. Bei einer peripheren Fazialisparese liegt die Läsion im Bereich des Fazialiskerns in der Pons oder im Verlauf des Nerven, was zu einer ipsilateralen Lähmung aller mimischen Gesichtsmuskeln inklusive Platysma führt; wenn die betroffene Person versucht, das Auge zu schliessen, lässt sich das Hochkippen des Bulbus beobachten (Bell'sches Phänomen). Zentrale und periphere Parese lassen sich gut voneinander abgrenzen, wenn man den Patienten oder die Patientin nach oben blicken lässt (womit auch der Stirnast stark innerviert wird). Bei peripheren Fazialisparesen erlaubt die Neuroanatomie eine ungefähre topographische Diagnose: einerseits zweigen motorische Fasern des N. facialis als N. stapedius im Verlauf des Hauptnerven ab, andererseits wird der N. facialis streckenweise von sensorischen Fasern für die vorderen zwei Drittel der Zunge, parasympathischen für Speichel- und Tränendrüsen und sensiblen zum Beispiel für die Haut des äusseren Gehörgangs begleitet; so kann es, je nachdem, ob die Läsion mehr proximal oder distal liegt, zu Hyperakusis und zu Störungen von Geschmack sowie Tränen- und Speichselsekretion kommen. Oft ist eine idiopathische Fazialisparese auch von einem dumpfen Gefühl oder Schmerzen im Gesicht, im Ohr oder retroaurikulär begleitet.(2,3)

Man kann eine Parese – eine unvollständige Lähmung – von einer Paralyse – eine totale Lähmung – unterscheiden. Eine weitere Differenzierung erlauben spezielle Skalen; am häufigsten wird diejenige nach «House Brackmann» verwendet, die sechs Grade kennt.(4)

Von den peripheren Fazialisparesen ist die idiopathische mit einem Anteil von 60 bis 75% die häufigste Form. Zur Differentialdiagnose gehören Fazialisparesen, denen eine andere Infektionskrankheit zugrundeliegt (Viren, Lyme-Borreliose) oder die durch eine Mittelohrerkrankung, einen Tumor, ein Trauma oder eine sonstige Ursache (Sarkoidose u.a.) bedingt sind. Mit Anamnese und klinischer Untersuchung lässt sich die Diagnose der idiopathischen Fazialisparese aber meistens stellen. Hauptkriterien sind: (1) die Schwäche oder Lähmung betrifft alle Muskeln einer Gesichtshälfte; (2) die Symptome haben sich innerhalb von Stunden entwickelt und erreichen das Maximum nach 24 bis 72 Stunden; (3) es finden sich keine Hauteffloreszenzen im Gesicht oder Ohr und keine Hinweise einer Erkrankung des ZNS, des Kleinhirnbrückenwinkels oder des Ohrs. Am schwierigsten kann die Abgrenzung gegenüber einem Herpes zoster oticus (Ramsay Hunt-Syndrom) sein, der von einer Fazialisparese begleitet sein kann und bei dem die üblicherweise vorhandenen Bläschen auch fehlen können (Zoster sine herpete); indessen manifestiert sich der Herpes zoster oticus meistens mit Innenohrsymptomen (Drehschwindel, Hörverminderung, Tinnitus).(2)

Die idiopathische Fazialisparese heilt bei drei Vierteln der Betroffenen ohne nennenswerte Folgen ab, wobei sich die Symptome im Wesentlichen während weniger Wochen zurückbilden. In etwa 15% der Fälle bleiben aber auch nach 6 Monaten Lähmungen oder Dysfunktionen zurück. Wenn aussprossende Axone sich mit mehr als einem Endorgan verbinden, können Defektheilungen entstehen; dies kann zu pathologischen Mitbewegungen (Synkinesien), hemifazialen Spasmen oder zum Phänomen der Krokodilstränen führen. Faktoren, die mit einer schlechteren Prognose einhergehen, sind rasche und vollständige Lähmung mit elektroneurographisch nachgewiesener hochgradiger Denervation, Alter über 60 Jahre, fehlende Besserungstendenz nach 3 Wochen, starke Schmerzen sowie Begleitzustände wie Schwangerschaft, Diabetes mellitus oder arterielle Hypertonie.

Behandlung

Für die Behandlung bei idiopathischer Fazialisparese lassen sich zwei Ziele formulieren: als primäres die Verhütung von Folgezuständen oder -schäden, als sekundäres die Verkürzung des Krankheitsverlaufs. Die hohe Spontanheilungsrate wirkt indessen als Handicap, um über eine Therapie bzw. ihren Nutzen zu befinden.

Augenschutz

Bei einer peripheren Fazialisparese muss die Kornea mit Tränenersatzpräparaten vor dem Austrocknen und vor Abrasionen geschützt werden, tagsüber mit regelmässig verabreichten Tropfen, nachtsüber mit einer Salbe. Eventuell braucht es eine Augenabdeckung (Uhrglasverband), bei längerdauernder Lähmung eine vorübergehende Implantation eines Goldgewichtes ins Augenoberlid. Zudem soll im Freien eine Sonnenbrille getragen und eine staubige Umgebung gemieden werden. In Zweifelsfällen oder wenn über Augenbeschwerden geklagt wird, ist zur raschen Überweisung an eine ophthalmologische Fachperson geraten.(4)

Steroide

Steroide haben bei der idiopathischen Fazialisparese eine lange Tradition, sind jedoch in kontrollierten Studien nur wenig geprüft worden. Üblicherweise wird Prednison in oraler Form eingesetzt, in einer Anfangsdosis von 1 mg/kg (maximal 80 mg/Tag), die man rund eine Woche beibehält.
Es gibt eine placebokontrollierte Doppelblindstudie (n = 62), die über die kurzfristigen Auswirkungen einer Steroidbehandlung berichtet. Mit Prednison, spätestens 3 Tage nach Symptombeginn intravenös verabreicht (1 g/Tag gefolgt von 0,5 g/Tag über je 3 Tage), konnte die Zeit bis zur Erholung im Durchschnitt von 36 auf 17 Tage verkürzt werden.(5)

Wie Steroide den Langzeitverlauf beeinflussen, wurde in einigen Studien untersucht, die auch in systematischen Übersichten zusammengefasst sind. Zwei Metaanalysen kommen zum Schluss, dass Steroide die Wahrscheinlichkeit einer kompletten Erholung absolut um etwa 12% erhöhen.(6,7) Gemäss der Übersicht der Cochrane-Gruppe vermögen dagegen Steroide den Anteil der Personen, die nach einem halben Jahr keine vollständige Erholung der Fazialisfunktion aufweisen, nicht signifikant zu reduzieren; auch das Auftreten von kosmetisch störenden Folgen, Synkinesien und anderen Dysfunktionen scheint sich durch Steroide nicht verringern zu lassen.(8) Diese Diskrepanz der Ergebnisse beruht auf einer unterschiedlichen Auswahl der Studien. Berücksichtigt man nur die qualitativ besten Studien, findet man keinen signifikanten Unterschied zwischen Steroid- und Kontrollgruppen; weil diese Untersuchungen allerdings nur wenige Personen umfassten, sind die Vertrauensintervalle breit. Werden, um das Kollektiv zu vergrössern und die Aussagekraft zu verbessern, auch qualitativ weniger gute Studien einbezogen, ergibt sich ein leichter Vorteil der Steroide.(9)

Antivirale Substanzen

Angesichts der möglichen viralen Ätiologie steht bei idiopathischer Fazialisparese auch eine Behandlung mit antiviralen Substanzen im Raum. Untersucht wurde in erster Linie Aciclovir (Zovirax® u.a.) – das die DNS-Synthese von Herpesviren hemmt – und zum Teil auch dessen «Prodrug» Valaciclovir (Valtrex®). (Zur Therapie der Fazialisparese sind diese Substanzen offiziell nicht registriert.)

Zur Monotherapie mit antiviralen Substanzen gibt es lediglich einen Vergleich mit Prednison. 101 Männer und Frauen erhielten Aciclovir (3 mal 800 mg/Tag über 10 Tage) oder Prednison (1 mg/kg/Tag über 10 Tage mit Absetzen binnen der nächsten 6 Tage); die Zuteilung erfolgte nach dem Zufallsprinzip, ob sie auch blind gehalten war, lässt sich nicht erschliessen. Der Start der Behandlung erfolgte in den ersten 4 Tagen nach Auftreten der Symptome. Nach 3 Monaten betrug der Anteil derjenigen, bei denen eine mittelschwere bis schwere Fazialisschwäche zurückgeblieben war, in der Aciclovir-Gruppe 22% und in der Prednison-Gruppe 6%.(10)

In zwei Doppelblindstudien wurde die Kombination von Virostatikum plus Steroid einer alleinigen Steroidgabe gegenübergestellt. 99 Personen nahmen während 10 Tagen Prednison (Startdosis 1 mg/kg) sowie zusätzlich Aciclovir (5-mal 400 mg/Tag) oder Placebo. Nach 4 Monaten betrug der Prozentsatz der als nicht zufriedenstellend bezeichneten Abheilungen bei der Kombinationsbehandlung 8%, bei der alleinigen Steroidbehandlung 24%. Mit der Kombination zählte man auch deutlich weniger Fälle von Kontrakturen mit Synkinesien.(11)In der anderen Studie wurde während einer Woche die Kombination von Valaciclovir (3 mal 500 mg/Tag) plus Deflazacort (Calcort®, 60 mg/Tag über 2 Tage, danach Dosisreduktion) mit Deflazacort allein und mit Placebo verglichen. Mit der Valaciclovir /Deflazacort-Kombination dauerte die Frist bis zur bestmöglichen Erholung im Durchschnitt 39 Tage, mit Deflazacort allein 52 Tage und mit Placebo 53 Tage.(12)

Andere Behandlungen

In vier randomisierten Studien hat man sich mit der Akupunktur befasst. In allen beobachtete man bei den mit Akupunktur Behandelten ein besseres Ergebnis als in den Kontrollgruppen. Allerdings werden die Untersuchungen wegen methodologischer Mängel als zu wenig aussagekräftig eingestuft, um eine relevante Schlussfolgerung abzuleiten.(13)

In der Literatur sind weitere Behandlungen beschrieben, die freilich höchstens rudimentär in Studien überprüft worden sind. Die chirurgische Dekompression des N. facialis an seiner engsten Durchtrittsstelle, dem Foramen meatale, wird bei vollständiger Lähmung und mindestens 90%iger Degeneration des Nerven erwogen. Der Eingriff sollte innerhalb von 14 Tagen erfolgen. Er wird aber insgesamt kontrovers beurteilt.(9)Mit rekonstruktiven Operationen lassen sich Restlähmungen oder andere Folgezustände angehen. Botulinumtoxin-Injektionen können helfen, um Synkinesien oder Krokodilstränen zu beeinflussen.(4)

Vorgeschlagen werden auch Muskelübungen unter logopädischer oder physiotherapeutischer Anleitung, bei denen die Betroffenen vor dem Spiegel versuchen, Augenbrauen zu heben, das Auge zu schliessen und mit dem Mund zu blasen oder zu pfeifen.

Schlussfolgerungen

Die idiopathische Fazialisparese heilt häufig folgenlos ab. Jede sechste bis siebte Person muss aber damit rechnen, dass manifeste Lähmungen oder Störungen zurückbleiben. Am gefährdetsten scheinen Personen mit einer vollständigen Lähmung, so dass man sie wahrscheinlich am besten einem Zentrum zuleitet. Bei der Behandlung ist der Schutz des Auges ein zentraler Punkt. Steroide können möglicherweise den Krankheitsverlauf verkürzen und die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Heilung verbessern; dieser Effekt scheint sich durch Kombination mit einer antiviralen Substanz etwas verstärken zu lassen. Von Fachleuten wird zum Beispiel die Kombination von Prednison (60 bis 80 mg/Tag) und Valaciclovir (2 mal 500 mg/Tag) empfohlen. Vermutlich ist eine Behandlung umso wirksamer, je rascher damit begonnen wird – sicher auch, weil sich mit antiviralen Substanzen die Replikationsphase nach einigen Tagen kaum mehr beeinflussen lässt. Insgesamt aber liegt wenig Evidenz vor, dass Medikamente Verlauf und Prognose in relevanter Weise ändern, so dass man einen Therapieentscheid individuell fällen sollte. Dazu gehört auch, dass man die Betroffenen, die durch das akute Auftreten der Parese oft verängstigt sind, beruhigt, indem man auf die guten Spontanheilungschancen verweist. Für Komplikationen, die zurückbleiben, stehen spezifische Massnahmen (Botulinumtoxin, rekonstruktive Eingriffe) zur Verfügung.

Standpunkte und Meinungen

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Idiopathische Fazialisparese (2. Oktober 2007)
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